17 oct. 2024
Plötzlich steht das Leben still – wenn Sekunden Schicksale besiegeln
Eine Fernsehnation hielt den Atem an, als wenige Sekunden Samuel Kochs Leben auf tragische Weise veränderten. Aus seiner Wette bei "Wetten, dass …?", bei welcher er mit Sprungfedern über fahrende Autos springen sollte, wurde eine schockierende Schlagzeile. Denn Samuel stürzte bei einem Sprung. Wenige Bewegungen genügten und aus Samuel, dem Sportenthusiasten, wurde Samuel, der Querschnittsgelähmte.
In der Schweiz sind solche tragischen Unfälle keine Ausnahme, sondern bittere Realität. Jedes Jahr erleiden unzählige Menschen durch Freizeit- oder Arbeitsplatzunfälle schwerwiegende Verletzungen; jedes Jahr werden so aus Sekunden zugleich Schicksalsschläge. Betroffene werden ihrer Gewohnheiten, Träume und Visionen beraubt, an den eigenen Körper gegeisselt und plötzlich stets das Leben still. Die eigene Realität ist fortan eine andere, was nicht nur körperlich, sondern auch emotional schwer zu bewältigen ist.
Dennoch kann ein solcher Schicksalsschlag jeden von uns treffen:
„Endlich ist der Sommer da …! Endlich hat er’s doch noch in die Schweiz geschafft!“ Für viele Glückliche unter uns, so auch für mich, fühlt sich das Leben bei schönem Wetter gleich leichter an. Als gelegentliche Autofahrerin weiss ich wiederum genauso, dass es sich dann oft sorgloser Autofahren lässt, weshalb ich mich selbst gut in Lisas Situation wiederfinde:
Freitagabend, Lisas Arbeitswoche nimmt endlich ein Ende.
„Wiedermal zu lange gearbeitet“, tadelt sich Lisa halbherzig, denn wie so oft rennt sie beinahe zum Auto, um nicht noch später bei Ihrer Freundin und dem geplanten Zusammensein aufzutauchen. Draussen strahlt die Sonne längst nicht mehr, der Himmel ist aber immer noch beinahe wolkenlos.
„Ich halte nur noch rasch beim nächsten Supermarkt, um alkoholfreien Sekt zu besorgen“, lässt Lisa ihre Freundin Johanna wissen „Danach komm’ ich zu dir auf die Terrasse und so schnell wirst du mich nicht mehr los!“ Unter Zeitdruck, aber bester Laune, fährt Lisa los, nur um wenige Minuten danach ihr Telefon vibrieren zu fühlen. „Sicher Johanna, die braucht doch immer noch irgendwas“, denkt sich Lisa lachend und greift überschwänglich in die Tasche.
Ab diesem Moment kann sich Lisa nur noch vage an das Geschehen erinnern; den Aufprall bekam sie gar nicht erst mit. Im Krankenhaus dann der Schock: Querschnittsgelähmt. Vor dem Unfall genoss Lisa ihr morgendliches Bad, das allabendliche Kochen sowie die Spaziergänge mit ihrem Hund Bucca. Nun scheinen diese Gewohnheiten der Vergangenheit anzugehören. Was vor Kurzem noch selbstverständlich war, wird zum täglichen Kampf und zu einer beinahe verhöhnenden Erinnerung.
Wie bei vielen sitzen auch bei Lisa die seelischen Wunden fast tiefer als die körperlichen. Die plötzliche Abhängigkeit wird zur kaum ertragbaren Wirklichkeit. Aktivitäten, die Freude bereiteten, scheinen unerreichbar und die psychische Belastung enorm. Die Trauer über das eigene „verlorene Leben“ ist überwältigend, denn sowohl Schock, Verzweiflung und Wut über verpasste Chancen lasten schwer. Für viele Betroffene werden zeitgleich auch Partner zu Pflegern und Kinder zu Betreuern. Auch Lisas Beziehung zu ihrem Freund wird auf eine harte Probe gestellt. Statt gemeinsamen Hobbys teilen beiden inzwischen Ratlosigkeit und Überforderung. Auch Lisas soziales Netz reisst an vielen Stellen auf. Der Weg vorwärts in eine glückliche Zukunft mit ihrem Freund wird für Lisa zum steinigen Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben.
Statt gemeinsamen Treffen mit Freunden, Sport und Reisen, bestimmen nun Therapien Lisas Alltag. Auch Hilfsmittel wie Rollstühle werden unverzichtbar, um ein gewisses Mass an Selbstständigkeit zu wahren. Aber Lisa möchte nicht aufgeben: „Ich schaff' das!“, sagt sie sich immer zu. Dabei ist selbst die Rückkehr in den Arbeitsalltag eine gewaltige Herausforderung. Lisas Arbeitsplatz ist längst nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung ausgerichtet.
Allein kann Lisa nicht alle Hürden meistern. Damit Menschen wie sie eine reelle Möglichkeit zur selbstbestimmten Teilhabe am Leben erhalten, müssen wir als Gesellschaft uns zunächst bewusst machen, mit welchen Kämpfen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind. Achtsamkeit, Sensibilisierung und gegenseitige Unterstützung bilden das einzige solide Fundament, um eine inklusive Welt zu schaffen, Transformationsprozesse in Gang zu setzen und Chancengleichheit zu etablieren.
Mögen flüchtige Sekunden auch Leben verändern: Menschlichkeit gibt Betroffenen und uns als Schweiz die Kraft, diesen Veränderungen mit Würde und Hoffnung zu begegnen. Denn Veränderung beginnt mit uns – mit der Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden und dem Willen, eine inklusive, gerechte Gesellschaft zu schaffen, in der jeder Mensch selbstbestimmt am Leben teilhaben kann. Wir als Gesellschaft können nicht nur Leben nachhaltig ändern, sondern damit zugleich vermeintliche Endpunkte zu einem Neubeginn umformen.
Text: Patricia da Cruz, Bild: Freepik.com